Die Geburt des Homo competens

Wohl nur wenigen Predigern des Kompetenzwahns in der schulischen und universitären Bildung sowie in der Fort- und Weiterbildung dürften Mateo Alaluf und Marcelle Stroobants bekannt sein. Dabei verdanken sie diesen beiden Soziologen von der Freien Universität Brüssel überhaupt erst ihre Daseinsberechtigung. Es lohnt sich, Medien-, Lese- und hermeneutische Kompetenz vorausgesetzt,  in einer autonomen Selbstlernphase mal nach "Alaluf/Stroobants 1994" zu googlen.

Über 1.300 Treffer werden angezeigt und wenn sie nicht gleich nach den ersten drei Treffern die Lust verlieren, stoßen sie auf die erste Ausgabe der Europäischen Zeitschrift für Berufsbildung. Erschienen 1994 mit dem Titel "Kompetenz: Begriff und Fakten". Formuliertes Ziel dieser, vom Europäischen Zentrum für die Förderung der Berufsbildung (Cedefop) redaktionell unterstützten Zeitschrift war es, "dem Informationsbedürfnis auf dem Gebiet der Berufsbildung in einer Zeit tiefgreifender wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen ... noch besser gerecht zu werden."[1]

Und was eignet sich für eine dezentrale Agentur der EU mit Sitz in Griechenland (Thessaloniki) besser, um den Informationsbedürfnissen europäischer Bürger gerecht zu werden: die Erfindung eines neuen Menschentyps. So trat er in die Welt, der Homo competens. Auf Seite 54 der zehnseitigen Abhandlung oben genannter Dozenten zur Frage "Mobilisiert Kompetenz den Arbeitnehmer?" springt er uns mit dicken Lettern entgegen. "Heute entsteht der Homo competens, dessen Verhalten von der Bereicherung seines Bestandes an Kompetenzen motiviert sein dürfte."[2]

Dieser Satz hatte für manch einen Hüter der Bildung etwas von der Verkündigung aus Lukas. "Fürchtet euch nicht! siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren..."[3] Dabei ist der Bezug zu einer bekannten Religion gar nicht so weit hergeholt. Denn auch hier fanden sich schnell beflissene Verkünder des neuen Glaubens an den Bildungseinrichtungen, fühlten sich einige zum Ritter für die Verteidigung des Glaubens berufen und manch Ungläubiger wurde der Ketzerei bezichtigt und verbrannt.

Einzig den Kelch, welcher Glückseligkeit, ewige Jugend und Speisen in unendlicher Fülle bieten sollte, hatten sie noch nicht gefunden.  Und so ersann man mit endloser Kreativität Kompetenzen, schuf Kompetenzmodelle, in der Hoffnung, dass bald die Quantitäten in eine neue Qualität umschlagen werden. Der für die Schweiz vorgelegte "Lehrplan21" brachte es für die Grundschule auf annähernd 4.000 Kompetenzen, die entwickelt, geübt, getestet und angewendet werden sollen.[4] Ein Curriculum für ein 9-tägiges Seminar zur Grundlagen der Lohnabrechnung bringt es immerhin auf beachtliche 35 Kompetenzen (tausende Grundkompetenzen natürlich vorausgesetzt). 

Trotzdem sollte sich die avisierte Glückseligkeit in der Bildung nicht einstellen. Es fehlte ein "heiliger Gral", ein Trinkgefäß, ein Kelch, ein Trichter, der aus einem Homo sapiens einen Homo competens zaubert. Ab und an glaubte man sich dem Gral sehr nahe. Man initiierte eine Bildungsreform nach der anderen, degradierte Lehrer zu Lernbetreuern, begnügte sich mit MC-Fragen und Lückentexten in Prüfungen, verteufelte den Frontalunterricht und das Fachwissen.

Es half alles nichts. Die Pisa-Ergebnisse wurden nicht besser, das allgemeine Bildungsniveau sank, die Wirtschaft beklagt fehlende Fachkräfte. Jedoch erschien 2014 den Rittern der Kompetenzrunde erneut ein Engel und verkündete die Erlösung durch Digitalisierung. Industrie 4.0 bedingt Lernen 4.0, das Problem war also die Technik. Schließen wir unsere Lernenden doch an den Computer an, vernetzen wir sie über virtuelle Lernplattformen, setzen wir ihnen VR-Brillen auf und lassen wir sie auf das "Wissen der Menschheit im Internet" zugreifen. Schöne neue Lernkultur.

Leider haben unsere selbsternannten Bildungsexperten, die vielen Curriculaentwickler und all die Jünger Johann Tetzels, welche uns einreden wollen, daß nur eine genügende Anzahl von Kompetenzen erwerben werden muss, um das eigene Seelenheil zu retten, nur die erste Seite der Abhandlung gelesen. Beide Autoren (Alaluf/Stroobants) setzen sich auf den folgenden neun Seiten sehr kritisch mit dem Kompetenzbegriff und seine Konsequenzen für die Arbeitswelt auseinander. Von der "Naturalisierung" der Berufshierarchien, von Bestimmungsproblemen, der Konkurrenz zum Schulabschluss und von der "Gefährdung der Arbeitsplätze"  ist dort die Rede.[5] Geburtsfehler sozusagen.

Interessant auch die Beobachtungen der beiden Autoren: "Dieser Ruf nach Kompetenzen wird natürlich in einer Situation laut, die von der Krise geprägt ist."[6] und: "Es hat ganz den Anschein, als ziehe man nie Lehren aus der Vergangenheit."[7]

Wie wahr.

Johann Tetzel, erfolgreicher Ablasshändler zu Zeiten Martin Luthers starb 1519 an der Pest. Erst 50 Jahre später wurde der Ablasshandel verboten. Es kann uns also noch so einiges bevorstehen. Damit bleibt mir vorerst nur das Bedauern darüber, dass die heutigen Apologeten der Kompetenz und Lernen 4.0-Gläubige ihre Selbstlernkompetenz in den autonomen Selbstlernphasen augenscheinlich nicht genügend zur Anwendung bringen konnten.

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[1]  Europäische Zeitschrift für Berufsbildung 1/1994, S. 1
[2]  ebenda, S.54
[3]  Lukas 2:11
[4]  P. Liessmann, "Praxis der Unbildung", Pieper-Verlag, 2016, S. 48
[5]  Europäische Zeitschrift für Berufsbildung 1/1994, S. 49ff.
[6]  ebenda, S. 49 
[1]  ebenda, S. 51

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