"Schöne Neue Lernkultur"

Prof. Dr. Karl-Heinz Dammer von Institut für Erziehungswissenschaften an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg gibt uns einen Live-Bericht zur Manifestation einer Neuen [Lehr- und] Lernkultur, die in den Köpfen blindgläubiger "Bildungsreformer" wie ein bösartiger Tumor wächst und von den eifrigen Predigern des Lernen 4.0 wie ein päpstlicher Ablass unter die Leute gebracht wird.

"Eine Studienanfängerin gibt die erste Stunde in ihrem Einführungspraktikum. Sie legt eine Folie als stummen Impuls auf und wartet die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler ab, bis die gewünschte Antwort kommt, die darin besteht, das Stundenthema zu erraten. Nach einer kurzen Erläuterung verteilt die Praktikantin diverse Arbeitsblätter mit dem Hinweis, die Schülerinnen und Schüler „dürften“ die Materialien allein bearbeiten, bei Schwierigkeiten sollten sie sich zunächst an den Nachbarn und danach gegebenenfalls an die Lehrerin wenden. Der überwiegende Teil der Stunde vergeht mit „Stillarbeit“, während derer die Praktikantin hier und da den Fortschritt der Arbeit überprüft und Hinweise gibt. Manche haben bereits nach zehn Minuten die Aufgaben gelöst, andere sitzen auch am Ende der Arbeitszeit noch vor einem fast leeren Blatt. In den letzten fünf Minuten der Stunde wird per Folie mit der Besprechung der Lösungen begonnen, die aber wegen des Klingelns nicht mehr beendet werden kann. Die Praktikantin zeigt sich mit dem Ergebnis zufrieden und dankt für die eifrige Mitarbeit.
Drücke ich in der Stundenbesprechung mein Bedauern darüber aus, dass ich von der Praktikantin oder dem Praktikanten als Lehrperson in dem skizzierten Sinne nicht viel habe wahrnehmen können, so bekomme ich eine erstaunlich professionell wirkende Antwort: Es entspreche doch nicht mehr dem modernen Bild vom Lehrer, dass er oder sie sich durch Frontalunterricht in den Mittelpunkt stelle, vielmehr gehe es darum, einen möglichst hohen Grad selbständiger Lerneraktivität zu stimulieren und als Lehrperson in den Hintergrund zu treten, die nur bei Problemen einzelner Schüler helfend eingreifen solle."

Auch ich sah mich in den letzten Tagen bei verschiedensten Gesprächen zu Strategien in der Fort- und Weiterbildung mit dieser "erstaunlich professionell wirkende[n] Antwort" konfrontiert. Dabei gingen manche Vorstellungen weit über o.g. Akteure noch hinaus. War es bei Prof. Dr. Dammer noch eine Studentin an einer pädagogischen Hochschule, möchten manche Eiferer gleich ganz auf geschultes und schon gar fachlich geschultes Personal verzichten. Für das Austeilen der Arbeitsblätter und die verwahrende Betreuung der Teilnehmer genügen auch fachunkundige "Lernbegleiter, -berater oder auch -coaches". Sollten sich beim so Lernenden dann konkrete Sachfragen ergeben, so kann doch dieser "Lernbegleiter" auf das Lehrbuch oder das "allwissende" Internet verweisen. Ist der Lernende dann mit diesem Verweis nicht zufrieden (weil er dort selbst schon keine Antwort gefunden hat), so vertröste man ihn auf Morgen in der Hoffnung, dann stünde eine Fachkraft zur Verfügung, die die gestern akute Frage beantworten kann.

Kein Witz, das war eine ernstgemeinte Aussage eines Kollegen, der selbst einmal als Dozent vor Kursen stand, eine Ausbildereingung besitzt und Berufspädagogik studiert hat. Welchen Schaden der Anfangs genannte Tumor in Zukunft noch anrichten wird, will ich mir gar nicht vorstellen. Vielleicht ist auch ein Besuch bei einem Neurobiologen angeraten, zumal gerade die Ablasshändler des Lernen 4.0 gerne auf neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung verweisen.

Leider konnte bisher noch kein Einziger meiner Gesprächspartner mir eine wissenschaftliche Studie auch nur benennen, die diese neuen Erkenntnisse aus der Hirnforschung zum Gegenstand hat.
Also hab ich mich selbst auf die Suche gemacht und eine Studie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung  zur "Lehr-Lern-Forschung und Neurowissenschaften- Erwartungen, Befunde, Forschungsperspektiven" gefunden.

Hier heißt es zum Abschluss: "Seitdem moderne Untersuchungsverfahren Einblicke in die neurophysiologischen Vorgänge bei der Informationsverarbeitung des Menschen ermöglichen, lassen sich sowohl Wissenschaftler als auch Laien von Bildern des denkenden und lernenden Gehirns faszinieren. Die bisher vorliegenden Befunde der neurophysiologischen Lernforschung sind allerdings nur selten eindeutig interpretierbar. Wenn überhaupt, lassen sich nur sehr allgemeine Schlussfolgerungen ableiten, die nicht selten den irreführenden Eindruck erwecken, dass eine Verbesserung zum Beispiel des schulischen Lernens mit Erkenntnissen der Hirnforschung leicht zu erreichen sei."  Upps.

Nun, wenn schon keine neurowissenschaftlichen Studien zur Hand sind, so beruft man sich eben auf einzelne Neurowissenschaftler. So zum Beispiel auf Dr. Katrin Hille (Forschungsleiterin des TransferZentrums für Neurowissenschaften und Lernen, Universität Ulm), die uns über sogenannte "Neurowissenschaftliche Binsenweisheiten" darüber in Kenntnis setzt: "Wer oft Geige spielt, wird gut im Geigenspielen und kann seine Finger der linken Hand schneller und präziser bewegen." Das klappt natürlich nur, solange unser Geigenspieler Rechsthänder ist. Ob die so erzeugten Töne zum Schluss auch eine Melodie ergeben und durch "oft Geige spielen" aus uns allen kleine David Garrett's werden, sagt sie leider nicht.

Oder nehmen wir Prof. Manfred Spitzer, (welch Zufall: auch Uni Ulm), der auch gerne als Koryphähe für die Neuen Lernkultur zitiert wird.  Schreibt dieser doch in seinem Buch "Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens": "Sie [die Präsenz der Lehrperson im Unterricht] sei – vor allen anderen didaktischen Hilfsmitteln - als Person ihr „stärkstes Medium“, sofern sie sich für ihr Fach begeistere und darin sachlich firm sei, gute Geschichten erzählen könne, um den Schülerinnen und Schülern das Vernetzen und Behalten von Wissen zu erleichtern und sofern sie in der Lage sei, eine positive Beziehung zu den Lernenden aufzubauen. In jedem Fall seien „der Lehrer (oder die Lehrerin) der bei weitem wichtigste Faktor beim Lernen in der Schule."   Upps.

Bekanntermaßen gehört ja zu den vielen Kompetenzen, die dem Lernenden in einer autonomen Selbstlernphase wie in der Verkündigung durch Gabriel erscheinen sollen, auch die sogenannte Medienkompetenz. Wenn nun, wie Prof. Dr. Spitzer schreibt, der Lehrer selbst das "stärkste Medium" darstellt, wir diesen aber heute demontieren, oder zur Selbstdegradierung zwingen, endet Medienkompetenz bei Goggle und Youtube. Vielleicht reicht es ja aber auch aus, um künftig Bausteinprüfungen im MC-Verfahren (richtig/falsch) mit 100% zu bestehen.

Nachtrag

Die berühmte Hattie-Studie "Visible Learning" (in der aus 50.000 Einzelstudien über 15 Jahre lang 800 Meta-Studien entstanden) kam zu folgendem Ergebnis:

Es kommt auf diejenigen Lehrpersonen an, die bestimmte Unterrichtstätigkeiten im Rahmen passender Curricula anwenden, und den Lernenden zeigen, wie man in Bezug auf diese Curricula Denkweisen und Strategien entwickelt.

wenig wirksam sind lt. der Studie
- offene Lernformen (d = .01),
- jahrgangsübergreifender Unterricht (d = .04),
- außerschulisches Lernen (d = .09),
- problemorientiertes Unterrichten (d = .15)
- Individualisierung unterrichtlicher Vorgehensweisen (d = .23)

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