Der Rasenmähermann 4.0


Kaum hat mein Avatar die virtuelle Lobby der Online-Universität betreten, springt mir der Learning-Guide-Avatar fast ins Gesicht. Ob ich denn heute auch so gut drauf sei, will er wissen und wie mein selbstgesteuertes Lernen gestern gelaufen ist. Seine Sensoren bemerken natürlich sofort, dass ich nicht gleich reagiere. Um in meinen „Flow“ zu kommen drängt er mir, wie schon Tagen zuvor, ein Memory-Spiel genannt „Magische Wand“ oder "Stadt-Name-Land" mit Begriffen aus meinem Fachbereich auf. 
Ich mache mir derweil Gedanken, ob es denn strafbar sei, wenn ein Avatar den anderen tötet.

Schöne neue „Lernwelten“, die uns von Anbietern der VR-Games und deren Götzendiener unter dem Titel „Lernen 4.0“ verkauft werden. Dabei sollten sich gerade Samsung und Co. an den SF-Klassiker „DerRasenmähermann“ aus dem Jahre 1992 erinnern können. Selbstgesteuertes Lernen mittels unkritischen Zugriff auf zur Verfügung stehende Information in einer virtuellen Welt führte hier zu Allmachtsfantasien und zum Weltuntergang. Nun ja, ein wenig wurde aus Stephen Kings Kurzgeschichte geborgt.

Es ist der alte Traum nach dem „Nürnberger Trichter“, geträumt in virtuellen Welten, gekoppelt an den schon fast fanatischen Glauben, im Internet das Wissen der Menschheit zu finden. Es ist die Entfremdung des Menschen von dem Menschen in der Bildung. Und eine logische Folge des Gesamtsystems, welches auf einem ökonomischen Prinzip beruht.

Da werden für die Aus- und Weiterbildung „limitierende Parameter“ genannt, welche in Ort (ortsfeste betriebliche Einrichtung), Zeit (regelm. Unterrichtszeiten) und der (profitablen) Anzahl der Teilnehmer gesehen werden. Eine Konstellation, welche sich wie ein „magisches Dreieck“ verhält. Eliminiert man den Parameter Ort durch Online-Angebote, erhöht sich die Anzahl potentiell möglicher Teilnehmer. Erweitert man die Zeit auf 24 Stunden pro Tag durch online abrufbare Inhalte, exponiert man die Anzahl der teilnehmenden Spieler.

Und wenn es gelingt, dem dann so „Lernenden“, mit verführerischen Überschriften wie „Eigenverantwortung“ und „Autonomie“, seine eigene menschliche Leistung, die im Erkennen wahrer und gerechtfertigter Meinung bestehen sollte, zu verschachern, dann hat man das System verstanden.

Es gibt jedoch in dieser Rechnung mehr als einen Stolperstein. Da sind zum einen die Trainer, Lehrer, Dozenten, Ausbilder, Wissensvermittler. Selbst Maria Montessori, deren Pfade man gerne vorgibt hier zu beschreiten, spricht in ihrem Buch „Kinder lernen schöpferisch“ folgende Worte: „Hilf mir, es selbst zu tun. Zeige mir, wie es geht.“ Es ist anzunehmen, dass die promovierte Naturwissenschaftlerin hier kein „höheres Wesen“ ansprechen wollte, sondern eher den menschlichen Lehrer im Blick hatte. Ein „limitierender Parameter“, der als solcher oben nicht einmal Erwähnung fand. Man hatte ihn schon vorher aus der Kalkulation entfernt.

Stattdessen bietet man „immersive Unterstützung“ an. Wieder ein Begriff aus der VR-Gamer-Welt. Damit beschreibt man den Effekt, den virtuelle Welten auf den Betrachter haben: Die Wahrnehmung in der realen Welt vermindert sich und der Betrachter identifiziert sich zunehmend mit der fiktiven Welt, er taucht sozusagen komplett in die Scheinwelt ein.
Allein im Kopf erlebte Handlungskompetenz, belohnt durch körpereigene Endorphine, beklatscht von computergesteuerten Avataren.

Ein weiterer Stolperstein oben aufgeführter Rechnung ist der Lernende selbst. Auch ihn hat man schon vorsorglich in der Kalkulation entfernt, indem man den Lernenden zur betriebswirtschaftlichen Größe „TN-Anzahl“ entfremdet. Kollaboration findet auf der Ebene der Avatare statt, Konstruktivismus in Scheinwelten, positive Emotionen werden wie bei Drogen produziert. 

Ich habe mich nun doch entschieden, meinen Learning-Guide-Avatar umzubringen.
In einer autonomen Selbstlernphase mit immersiver Unterstützung bin ich im Internet auf ein Perry Rhodan Heft „Die Stadt ohne Geheimnisse“ gestoßen. Dort heißt es: „Paucht [ein Priorminister] wandte sich Aller Wesen Freund zu. »Ich wollte dich nicht beleidigen. « »Ich bin nur ein Avatar«, sagte Aller Wesen Freund milde. »Niemand vermag mich zu beleidigen. «“ Vielleicht kann man ihn ja töten.

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